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MUTTER NATUR

Liebes Publikum, liebe Künstler:innen, liebe Veranstalter:innen,


die Stimme der Kunst spricht vielfältig, sie ruft Veränderungen herbei, will aufrütteln: manchmal wie ein Orkan, ein anderes Mal wie eine Meeresbrise.

Inmitten von Umbrüchen und Veränderungen erinnert uns die Kunst daran, dass Schönheit und Inspiration trotz allem existieren. Kunstwerke, kleine und große, neue und bereits bekannte, können uns die Kraft geben, weiter zu denken und weiter zu kreieren. So ist es nicht erstaunlich und zugleich doch, was Menschen bereit sind zu geben, um gemeinsame, bleibende Erlebnisse zu schaffen.

Friedrich Nietzsche schrieb: „Die Erde hat Musik für diejenigen, die zuhören.“ Die Natur selbst ist ja bekannterweise eine sehr große Künstlerin und es liegt an uns, ihr zuzuhören und endlich auch nach ihr zu handeln. Aus diesem Grund läuft die kommende Saison des Ehrbar Saals unter dem Motto „Mutter Natur“. Alle Konzerte, die dieses Motto bestärken, werden mit dem neuen Mutter-Natur-Symbol, dem grünen Blatt, ausgezeichnet.

Cathrin Chytil

Künstlerische Leiterin, Ehrbar Saal

Cathrin Chytil © Attila Kovacs

Mutter Natur und die Kunst

im 21. Jahrhundert

ZWISCHEN künstlerischer Inspiration und Naturphänomenen offenbart sich ein faszinierendes Forschungsfeld, das gleichermaßen die kreative Vorstellungskraft und empirische Realitäten betrachtet. Kunstschaffende aller Gattungen haben sich seit jeher von den vielfältigen Erscheinungen der Natur inspirieren lassen, von der Schönheit der Landschaften bis hin zu den akustischen Texturen der Umgebung. Die Natur beeinflusst die Empfindungen der Menschen, sie war und ist durch ihre auf die Menschen tief wirkende und berührende Kraft Anstoß vieler großer Werke. Warum ist das so? Wie wirkt etwa das Meer auf das produktive Schaffen einer Komponist:in? Wie der Blick auf das Wolkenkino Himmel? Oder in die sternenklare Nacht, hinein in ein offenes, unendliches Dunkel? Wie wirkt der Anblick eines Flusses, kalt und klar und wie jener eines großen, schweren Stroms? Wie wirken die Alpen und wie ein einzelner Berg, ein Vulkan, wie etwa der Mount Fuji? Wie wirken Schattenbilder von Blättern und Bäumen auf weißen Wänden und wie Platanen und Pappeln im Wind, wie ein Schwan, der leise über dunkle Seen des Salzkammerguts zieht? Wie wirkt der fallende Schnee, der nieselnde Regen? Diese Phänomene gehen nicht spurlos am Schaffensprozess vorbei und die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Allein der Blick aus dem Fenster, egal in welche Art von Natur, lässt ein gewisses Gefühl entstehen. Eine Mischung aus der Diskrepanz zwischen innen und außen, die einen zur Beobachter:in eines Geschehens werden lässt, an dem man selbst nicht teilhat.

Die Abwesenheit von Natur spielt ebenfalls eine Rolle. Denn dort, wo keine Natur mehr ist, wo sie als verloren vielleicht unbewusst gespürt wird, entsteht die Sehnsucht nach ihr, und dort entsteht auch ein Kontrast, der eine Wirkung hat. Es ist der Kontrast zwischen Kultur- und Naturlandschaft. Dazu kommt noch ein weiterer Kontrast, jener zwischen der Natur wie wir sie erleben und der Umwälzung, in der sie sich zur gleichen Zeit befindet. Diese Auswirkungen führen zu inneren Gegensätzen in der Wahrnehmung und damit auch zu Auswirkungen in der künstlerischen Wahrnehmung und Empfindung.


Das Helle der Erde ist verdunkelt. Das Licht hat sich wieder verfinstert, als läge ein ständiger Schleier über dem Himmel.
Das betrifft die Klimakrise, aber auch die veränderten politischen Ereignisse, die Kriege, die sich verlagernden gesellschaftlich-politischen Schwerpunkte.

 

Das Helle der Erde ist verwundet. Wie durch ein Ding, das in uns alle dringt, dringen muss, denn an niemandem können diese Verwundungen des Lichts abprallen. Doch: Viele Menschen tragen ein inneres Licht, auch wenn sie nach außen hin funktionieren, fügsam sind, nicht aufbegehren, so kann ihr Licht beharrlich und hart sein, kräftig leuchten – ihre Art, Veränderung herbeizuführen funktioniert anders. Künstler:innen werden sich nicht wehrlos von sich verschlimmernden, sich wieder verdunkelnden Ereignissen mitreißen lassen. Die Ereignisse, die spürbaren, sichtbaren, aber auch die noch unsichtbaren, hinterlassen Spuren.

Diese Spuren – die Risse, Disharmonien, Störungen und Katastrophen sind, werden sich an manchen Stellen verdeckt und
an anderen offensichtlich im künstlerischen Ausdruck zeigen. Es handelt sich hier um eine individuelle Entscheidung der Schaffenden. Die Formen dieses Ausdrucks, dieses Zeigens, können sich diametral unterscheiden. Es kann sich sowohl um Trost spendende Schönheit als auch um aufrüttelnden Aktivismus handeln.


Wird Kunst gegenwärtig zur Erzählung, zu einer Art Paradigma für die Klimakrise?
Wird später einmal anhand des künstlerischen Schaffens einer gewissen Zeitperiode auch die Veränderung des Klimas nachgezeichnet werden können?

 

Kompositionen sind heute und waren schon immer von der Natur inspiriert. Musikalische Werke, bei denen das ganz offensichtlich so ist, reichen von klassischen Stücken wie Beethovens „Pastorale Symphonie“, Franz Schuberts Lied „Die Mutter Erde“, Edvard Griegs „Morgenstimmung“, Johann Strauss’ „Frühlingsstimmen“, Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, bis zu zeitgenössischen Werken wie Johanna Doderers „Schneerosen Walzer“, Ludovico Einaudis „Elegy for the Arctis“, wo die Richtung Klimakrise offen thematisiert ist, wie auch John Luther Adams’ „Inuksuit“, das die Weite und Stille der arktischen Landschaft einfängt.

Ebenso finden sich in der bildenden Kunst zahlreiche Beispiele der Einflussnahme der Natur auf Gemälde. Von den impressionistischen Gemälden Claude Monets, die die Flüchtigkeit des Lichts einfangen, über jene Gemälde, die die Zeichen der Industrialisierung und die ersten Einwirkungen des Menschen auf die Natur abbilden, wie etwa bei Karl Eduard Biermann zu finden, bis hin zu den abstrakten Landschaftsdarstellungen von Georgia O’Keeffe, die einerseits die organischen Formen der Natur erkunden und andererseits auf Plätze oder Dinge konzentriert sind, die eine Art „ewige Schönheit“ in sich tragen, wie Knochen in der Wüste oder einsame, schwarze Hügel. Die zeitgenössische bildende Künstlerin Angela Andorrer beschäftigt sich mit der Haltbarmachung von Blättern verschiedenster Pflanzen - es geht hier auch um Entnahme und Objektmachung von Teilen der Natur, die eines Tages vielleicht verloren sein werden.

Oft handelt es sich um die Verbindung mit etwas Archaischem. Vielleicht spürt man die Geschichte der Vorfahren oder seine eigenen Wurzeln, nämlich, dass wir Menschen aus der Natur kommen und zurück in die Natur gehen werden, dass wir selbst Natur sind. Viele Künstler:innen erleben Identifikationszustände mit Bäumen, Wiesen, dem Wald oder schlicht der Erde, die sie zu intensiven, auch spontanen Werken anregen. Sie haben manchmal den Eindruck, die Natur habe ihnen etwas zugeflüstert. Es fühlt sich an, als sei etwas zu Tage getreten, das davor schon da war.

Auf wissenschaftlicher Ebene wird die neurologische Grundlage der künstlerischen Inspiration untersucht, wobei Forscher:innen feststellen, dass ästhetische Empfindungen mit bestimmten Mustern neuronaler Aktivität verbunden sind. Die Fähigkeit, Schönheit, Veränderung, Gewalten oder Phänomene der Natur zu erfassen und in künstlerische Ausdrucksformen umzuwandeln, spiegelt somit eine komplexe Interaktion zwischen kognitiven Prozessen und emotionalen Reaktionen wider.

Die sichtbaren Zerstörungen unserer „Mutter Natur“ – jener Natur, die alles hervorbringt und die wir auch selbst sind – sei es das Abholzen von Regenwäldern, das Abschmelzen von Gletschern und Polkappen, die Verschmutzung, Erwärmung, Strömungsänderung von Gewässern, die Zunahme von Wetterextremen wie Hitzewellen, Stürmen, Flutkatastrophen, das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten wie Schmetterlingen, Bienen oder vieler Vogelarten in Europa haben einen direkten Einfluss auf die Entwicklung der Künste. Oftmals sehen sich Künstler:innen gezwungen, ihre Werke anders zu gestalten, sie umzuschreiben oder zu verändern, nachdem sich große Katastrophen ereignet haben. Auch in Kriegen ändern sich die Werke der Künstler:innen einschneidend.

Künstlerische Produktion und Aktion sind demnach als Spiegel der Gesellschaft und als kreativer Ausdruck von menschlichem Erleben und Handeln in Bezug auf die natürliche Welt notwendig. Das war früher so und es wird weiterhin so sein - es ist auch derzeit mehr als sonst eine Notwendigkeit.


Wer soll sonst aufrütteln, wenn die Künstler:innen auf den Bühnen es nicht tun?

 

Die „Mutter Natur“ als Begriff steht in einer Art Gegensatz zu einer männlichen, patriarchalen, kapitalistischen Welt. Diese begrifflichen Dichotomien möchten Gesellschaften heute mehr und mehr auflösen, es geht um ein non-binäres Denken, um ein Vermeiden geschlechtlicher Zuweisungen. Leider ist es aber immer noch so, dass Frauen oder non-binäre Personen selten die Geschicke der Welt an politischen Schalthebeln beeinflussen. Unsere Erde, wie wir sie kennen, ist hauptsächlich von Männern regiert. Deshalb möchten wir noch „Mutter Natur“ sagen dürfen, weil das schöpferische Hervorbringen der Natur und auch das Gebären der Menschen etwas Weibliches und Schützenswertes ist. Und um den Schutz unserer Natur geht es auch in dieser Zeit, in der wir gerade leben.

Das Zusammenspiel von Natur und Kunst ist faszinierend, geheimnisvoll und schmerzhaft. Was den Menschen berührt, ist, was die Natur hervorbringt. Was die Natur zerstört, ist, was den Menschen schmerzt. Zugleich fehlt sowohl der Gesellschaft als auch der Wirtschaft die Bereitschaft, kleine Veränderungen, Verschiebungen, zugunsten der Umwelt vorzunehmen.
Es ist zu schützen, was uns bedingt. Die Musik ist eine starke Kraft.

Für diese Saison haben wir ein Blatt-Symbol entwickelt, das alle Konzerte, die unser Schwerpunkt-Thema „Mutter Natur“ aufgreifen, hervorheben soll.

Verena Stauffer

Redaktion Ehrbar Saal
Der Ehrbar Saal und der Kleine Ehrbar Saal werden von der
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